Ohne Luft kein Ton

Der junge Mann ist ungeduldig. Er rutscht auf der Orgelbank hin und her und will endlich anfangen. Mit 18 Jahren ist Jacob Praetorius schon sehr erfolgreich – und entsprechend selbstbewusst. 

Links der Kalkant, der die durch Gewichte beschwerten oberen Teile der Schöpfbälge nacheinander anhebt. Ist der letzte Balg „gefüllt“, beginnt er erneut mit dem ersten. Auf der rechten Seite sieht man den Organisten. Kupferstich aus Bédos de Celles: L’art du Facteur d’Orgues, 1776. Quelle: Wikipedia

Es ist ein trüber Novembertag im Jahr 1604, an dem der neue Kantor von St. Petri eigentlich üben will. Er hat mehrere Register gezogen und hört deren vollen Klang schon im Ohr, obwohl in der großen gotischen Kirche noch immer Stille herrscht. Er will improvisieren, ein Thema variieren und mit unterschiedlichen Stimmen ausarbeiten, so wie er es zuvor an der Orgel der Oude Kerk in Amsterdam gelernt hat, bei seinem berühmten Lehrer Jan Pieterszoon Sweelinck. Wo bleibt er nur, der Kalkant? Ist der Bälgetreter mal wieder betrunken? Immer wieder zieht Praetorius den hölzernen Hebel des Kalkantenrufs, mit dem er seiner Hilfskraft mittels eines Glöckchens signalisiert, dass er endlich anfangen soll, die Bälge zu treten. Das mag ja anstrengend sein, je mehr Register er gezogen hat, desto schweißtreibender. Aber schließlich wird der Kalkant dafür bezahlt. Endlich hört der junge Organist, wie sich die Windladen mit Luft füllen. Er sammelt sich kurz, dann greift er in die Tasten und drückt mit beiden Füßen ins Pedal, sodass der große dreischiffige Raum mit dem kräftigen Klang des Weihnachtschorals „Gelobet seist Du, Jesu Christ“ erfüllt wird.

Da hat er gut zu tun, der Kalkant. Praetorius zieht immer mehr Register, die „Lunge der Orgel“ braucht also immer mehr Luft. Bei kleineren Orgeln wurden die Bälge mit der Hand bedient, doch hier in St. Petri muss der Kalkant mit dem Fuß kräftig treten und manchmal gar sein ganzes Körpergewicht einsetzen. Bei besonders großen Orgeln waren oft sogar mehrere Kalkanten im Einsatz.

Das blieb Jahrhunderte lang so und änderte sich erst mit der Erfindung der Elektrizität. Nun entwickelten die Orgelbauer Ventilatoren, die elektrisch angetrieben wurden. Am Anfang war diese technische Neuerung bei den Organisten nicht besonders beliebt, weil die Laufgeräusche zu hören waren und damit das Klangerlebnis der Orgel beeinträchtigten. Doch bald schon gab es Orgelmotoren, die mit Drehstrom versorgt wurden und fast geräuschlos arbeiteten – und am Ende viel zuverlässiger waren als mancher Kalkant. 

Jacob Praetorius war als Organist an St. Petri tätig, bis er 1651 im Alter von 65 Jahren starb. Würde er durch einen Zeittunnel ins heutige Hamburg gelangen, um die vielen historischen und modernen Orgeln spielend kennenzulernen, wäre er vermutlich sprachlos angesichts der technischen und klanglichen Möglichkeiten. Und ganz nebenbei würde er wahrscheinlich mit Genugtuung feststellen, dass heute kein Organist mehr auf die schweißtreibende Arbeit eines Kalkanten angewiesen ist.

Text: Matthias Gretzschel